Nach fünf Stunden Fahrt rollen René und ich das Tal der Sesia im nördlichen Piemont hoch. Die Dörfer bestehen meist aus langen Häuserzeilen, welche beide Strassenseiten säumen. In der Mitte eine Kirche aus behauenen, dunklen Granitsteinen, viel mehr hat häufig zwischen dem Schwemmland des Flusses und der Bergflanke gar nicht Platz. Ab und zu bilden zwei alte Gebäude – wohl noch aus der geruhsamen Postkutschenzeit – einen Engpass, welcher das Kreuzen von Fahrzeugen zu einem spannenden, wenn nicht gar angespannten Manöver werden lässt

Eine Osteria hat drei Tischchen mit Stühlen und farbigem Sonnenschirm an den Strassenrand gestellt um durstige Passanten zur Einkehr zu bewegen. Es ist Pfingstsonntag. Trotzdem hat im nächsten Dorf der Lebensmittelladen geöffnet und eine einladende Gemüse- und Früchteauswahl vor die Türe gestellt. Alles versprüht südliche Nonchalance, ein bisschen Italianità eben. Die Talstrasse ist hier die Lebensader. Sie bringt Arbeit, Gäste und Kunden. Vom Fluss, dem sportlichen Ziel unserer Reise, ist von der Strasse aus nur selten etwas zu sehen. Ein, zwei Mal wird der Blick auf herrliches, glasklar rauschendes Wasser in einem breiten Bett aus kopfgrossen Kieselsteinen frei. Sonst versteckt er sich hinter der dichten Uferbewaldung. Wir geniessen die Fahrt durch das schöne Tal mit viel frischem Grün, den braunen Granitfelsen und gezackten Bergkämmen. Fast jedes Detail ist mit Erinnerungen an frühere Besuche verbunden.

Um 15.00 Uhr erreichen wir unser Ziel, Campertogno. Die imposante, auf einem Felsbankett thronende Steinkirche grüsst uns von weitem über die Dächer hinweg. Die enge Durchfahrt zwischen den eindrücklichen, leider vom Zahn der Zeit etwas mitgenommenen Palazzi, welche nur Einbahnverkehr zulässt, ist zu unserer Freude noch nicht den Mobilitätsansprüchen zum Opfer gefallen. Wir müssen kurz warten, bis die Lichtsignalanlage unsere Fahrtrichtung frei gibt. Was soll’s, wir sind in den Ferien und haben Zeit. Mitten im Dorf halten wir nach links, rumpeln über einen Damm und kommen auf dem Campingplatz an. Dort werden wir von Alberto schon erwartet. Offenbar haben uns die gestern angereisten Club Mitglieder als Nachzügler angekündigt. Wir erhalten einen Platz auf der Wiese neben den Bus-Stellplätzen der Kollegen zugewiesen. Diese sind wohl schon irgendwo auf dem Wasser unterwegs.

Der Himmel ist bewölkt mit ein paar blauen Löchern. Daher ist das Aufstellen der Zelte angenehm, nicht so schweisstreibend wie in der prallen Sonne. Bei der anschliessenden Erfrischung im Garten der Camping Bar stelle ich fest, es ist eher kühl. Ohne Pullover draussen sitzen geht auf Dauer nicht. Dies vermag unsere gute Stimmung allerdings nicht zu beeinträchtigen. Wir sind angekommen und installiert. Schon seit ein paar Wochen haben wir uns auf diesen Moment gefreut. Wieso eigentlich?

Da sind unsere langjährigen, einheimischen Bekannten und Freunde, die uns jedes Jahr herzlich begrüssen und willkommen heissen. Sie interessieren sich dafür, wie es den Kollegen geht, die für einmal nicht mit von der Partie sind, und erzählen uns, wie der Winter war, ob oben noch Schnee liegt sowie was sonst während dem Jahr im Tal alles passiert ist.

Dann geht die Liebe bekanntlich durch den Magen. Alberto betreibt zwar auf dem Campingplatz eine Pizzeria mit grossem Erfolg, nicht nur bei den Campinggästen sondern auch bei den Einheimischen. Offenbar wird das weltweit erfolgreiche Gericht aus Neapel auch von Ihnen als Abwechslung zur Hausmannskost geschätzt. Mein Herz schlägt jedoch für die herkömmliche, piemontesische Küche mit den traditionellen zwei Hauptgängen. Den Ersten bildet eine reiche Auswahl an italienischen Teigwarenformen mit leckeren Saucen, beides meist hausgemacht, während beim Zweiten ein Stück Fleisch vom Grill, Braten oder lokale Wurstspezialitäten den Schwerpunkt bilden. So kann man sich, je nach Lust und Hunger, eine leichte oder eine eher deftige Mahlzeit zusammenstellen. Wer einen Riesenhunger hat, darf sich vorab noch ein Antipasto servieren lassen. Dass das Ganze herrlich, mediterran gewürzt auf den Tisch kommt, muss ich hier wohl nicht speziell hervorheben. Zu meinem Bedauern ist das Ristorante im Dorf schon seit ein paar Jahren geschlossen. Zweimal haben wir deshalb eine kurze Autofahrt in Kauf genommen, um uns auswärts die geschilderten Gaumenfreuden zu gönnen.

Selbstverständlich spielt auch der einzigartige Fluss, die Sesia, eine gewichtige Rolle. Sie entspringt den Gletschern des Südhangs des Monte Rosa und schlängelt sich in meist östlicher Richtung durch die vorgelagerten Gebirgszüge um sich schliesslich bei Varallo definitiv für den Weg nach Süden hin zum Po zu entscheiden. Ihr Wasser ist im Normalfall kristallklar mit einem leicht blauen Schimmer, der einen schönen Kontrast zum groben, hellen Kiesbett bildet. Da kann man als Paddler der Versuchung kaum widerstehen, in den Kajak zu steigen und einen Ritt auf dieser Perle zu wagen. Man muss allerdings auf der Hut sein. Das Wasser hat trotz der einladenden Farbe viel Druck und macht sich einen Spass daraus, die Sattelfestigkeit des Freizeitkapitäns hin und wieder überraschend zu prüfen. Dort, wo sie den gewachsenen Felsen freigelegt hat, sind stets schwierige Stellen mit Abfällen und Stufen entstanden, deren Befahrung den Mutigen und Spezialisten vorbehalten ist.

Die Sesia kann aber auch anders. Nach intensiven Regenfällen kommt sie als braunes, brüllendes Monster daher, füllt das ganze, breite Flussbett, gestaltet es um und räumt weg, was ihr im Weg steht. Im Fluss liegende Brückenreste sind Zeugen solcher Dramen.

Die beiden Zuflüsse Sermenza und Mastallone bilden eine sportliche Ergänzung zur Sesia. Ihre ebenfalls klaren, aber grünlichen Wasser zwängen sich durch enge Schluchten. Die Sermenza reizt sogar mit mehreren, schwierigen Wasserfällen und Rutschen.

Leider ist uns das kühle Wetter bis zum zweitletzten Tag treu geblieben. Wobei dieser auch noch verregnet war und bezüglich Frische den Tiefpunkt markierte. Als die Wolken über Mittag kurz aufrissen, überraschten uns die umliegenden, rund 2400 m hohen Berggipfel sogar mit einer veritablen Schneekappe.

In verschiedenen Gruppen haben wir Teilstücke der Sesia, der Sermenza und des Mastallone gepaddelt. Das nautische Programm wurde je nach persönlicher Lust und Ambitionen von den einen mit Mountainbiken und Bergläufen, von den andern mit gemütlichem Wandern ergänzt und aufgelockert.

Nach sieben abwechslungsreichen Tagen in diesem herrlichen Tal haben wir unsere Habe zusammengeräumt und etwas wehmütig den Heimweg angetreten. Ciao Val Sesia, wir kommen wieder!

Fredi Moor